Ich habe wieder für Sie geschrieben. Meine Weihnachtsgeschichte 2022 handelt von etwas, was wir sicherlich alle gut gebrauchen können. Also nehmen Sie sich etwas Zeit, denn hier gibt es:
Frohe Botschaften
Im Nachbarbüro wurde doch tatsächlich gelacht! Gisela versuchte, die Geräusche auszublenden, aber es wollte ihr einfach nicht gelingen. Torstens glucksendes Mmh-mmh-mmh, Dorits Lachexplosion und über allem Bines helles Kichern, dagegen kämen noch nicht einmal Ohrstöpsel und eine Schallschutztür an. Es war ja nicht so, dass Gisela den anderen die Heiterkeit nicht gönnen würde, aber sie selbst saß ganz alleine in ihrem Büro, da gab es nun mal wenig zu lachen.
„Manche hier müssen natürlich auch arbeiten …“, bemerkte sie mit spitzem Ton auf der Höhe des immer noch fröhlichen Nachbarbüros auf dem Rückweg vom Drucker – scheinbar zu sich selbst, aber natürlich so laut, dass die anderen es hören mussten. Darauf folgte betroffenes Schweigen, im Weitergehen meinte Gisela, leises Getuschel zu hören.
Wieder an ihrem Schreibtisch angekommen, stellte sie fest, dass die erwartete Zufriedenheit über ihre wohlplatzierte Bemerkung ausblieb. Noch schlimmer: Wenn sie ganz ehrlich mit sich war, fühlte sie sich freudlos und leer.
Der nächste Tag brachte das Fass ihrer Unzufriedenheit zum Überlaufen – mal wieder.
Gisela stürmte zum benachbarten Büro, blieb in der Tür stehen und schrie. „Was denkt ihr euch eigentlich dabei? Warum sagt mir denn niemand, dass Maschine fünf schon seit zwei Tagen kaputt ist? Das kann doch nicht angehen, dass ich nur durch Zufall davon erfahre! Ich fasse es nicht! Jetzt kann ich wieder alle Kunden vertrösten, das ist so peinlich! Aber der ollen Gisela muss man ja nichts sagen, wozu soll die das schon wissen … Wie soll denn der Saftladen hier laufen, wenn wir nicht zusammenarbeiten?!“
Sie drehte sich auf dem Absatz um und stapfte davon. In der Teeküche goss sie sich ein Glas kühles Wasser ein, sicher würde ihr das helfen, wieder runterzukommen. Mit dem Glas in der Hand stellte sie sich ans Fenster. Draußen war es trüb, einer dieser Tage, an denen es gar nicht recht hell werden wollte. Tief hängende Wolken, alles Grau in Grau, kahle Baumskelette. Trostlos. Und natürlich war auch kein Schnee in Sicht, dabei war schon der erste Dezember. Na, frohe Adventszeit, dachte sie, schnaubte leise und kehrte in ihr Büro zurück.
Sie sah es gleich, als sie durch die Tür kam: Von der Schreibtischlampe baumelte ein dickes Bündel silbern glitzernder Lamettasträhnen. „Was soll denn das? Firlefanz!“, schoss es ihr durch den Kopf, schon wollte sie das silberne Zeug herunterreißen. Doch dann fiel ihr Blick auf den Zettel, der daran hing: „Früher war mehr Lametta!“, stand in roter Schrift darauf. Gisela musste lachen. Sie las noch einmal: „Früher war mehr Lametta!“ Ja, früher, Lametta, wie hatte sie das als Kind geliebt. Mit Begeisterung hatte die kleine Gisela es überall dort in den Baum gehängt, wo sie mit ihren kurzen Armen ankam. Nach dem Fest wurden die feinen silbernen Fäden dann vorsichtig abgenommen, entwirrt, geglättet und sorgsam wieder in die Packung gelegt, für das nächste Jahr. Bei diesen Erinnerungen wurde Gisela innerlich ganz warm.
Wer hatte das nur dahin gehängt? Und warum? Na, das würde sie schon noch rauskriegen. Sie machte sich wieder an die Arbeit. Dass dabei ein leises Lächeln auf ihren Lippen lag, merkte sie gar nicht. Aber jedes Mal, wenn ihr Blick auf die glitzernden Fäden fiel, stieg wieder diese ganz besondere Wärme in ihr hoch, und das merkte sie sehr wohl.
Am folgenden Tag war sie immer noch damit beschäftigt, Liefertermine umzulegen, Kunden zu vertrösten und dabei besonders freundlich zu ihnen zu sein. Das kostete Kraft, und eigentlich hatte sie andere Dinge zu tun. Mit jedem Anruf stieg der Groll über diese vollkommen vermeidbare Aktion wieder in ihr hoch und ließ das Lamettaglitzern stumpf werden.
Am späten Vormittag ließ sie sich nach einem Toilettenbesuch resigniert wieder in ihren Stuhl fallen, noch immer zwölf dieser peinlichen Anrufe zu erledigen … Doch was war das? Neben der Maus lag ein Teebeutel. Nicht ihre Sorte, wo kam der nur her? „Weihnachtlicher Bratapfel“, versprach die Verpackung. Gisela schnupperte. Quietschsüß, bäh!, und bestimmt voller künstlicher Aromen, was sollte sie denn damit? Sie pfefferte das Päckchen in den Papierkorb, seufzte leise und machte sich daran, die Nummer der nächsten Kundin herauszusuchen. Ein bisschen Smalltalk gehörte zu den Anrufen dazu, und während Gisela heldenhaft die Ausführungen der Kundin über die Nachhaltigkeitsmaßnahmen in ihrem Unternehmen ertrug, musste sie an ihre Enkelin denken. Die lag ihr auch ständig mit Klimaschutz und Ressourcenverschwendung in den Ohren. Giselas Blick wanderte zum Papierkorb. Mit schlechtem Gewissen fischte sie den Teebeutel nach dem Telefonat wieder heraus. Wenigstens probieren sollte sie das Gebräu wohl doch.
In der Teeküche traf sie auf Dorit. „Sag mal“, fragte Gisela, „habe ich den Teebeutel euch zu verdanken? Und das Lametta gestern?“ Dorit sah sie mit großen Augen an. „Lametta? Teebeutel? Wovon redest du?“ – „Das Lametta gestern an meiner Lampe. Und vorhin der Teebeutel. Irgendjemand muss mir das auf den Schreibtisch gelegt haben.“ – „Tut mir leid, Gisela, davon weiß ich nichts. Aber das klingt doch nett, freu dich doch einfach!“
Ja, dachte Gisela, einfach freuen. Wie schön wäre das, und wie schwer war das manchmal.
Doch offenbar war irgendjemand im Betrieb wild entschlossen, Gisela eine Freude zu machen.
Am nächsten Tag fand sie einen kunstvoll ausgeschnittenen filigranen Stern auf ihrem Tisch. Sie hängte ihn über dem Telefon an die Wand. Jetzt zauberte sowohl der Blick nach links – Lametta – als auch der Blick nach rechts – Stern – ihr mehrmals am Tag ein Lächeln ins Gesicht.
Am übernächsten Tag hatte jemand einen Zettel auf ihre Tastatur gelegt: „Vorsicht! Nicht die Marzipankartoffel lochen!“ Und tatsächlich, unter dem Griff des Lochers lag eine schöne, mattbraune Marzipankartoffel. Marzipan liebte Gisela besonders.
Dann war Wochenende.
Am Montag entdeckte sie eine Notiz unter dem Telefonhörer: „Wie viele verschiedene Vogelarten erkennst du draußen am Meisenknödel?“ Meisenknödel? Gisela blickte zum Fenster. In der Tat: In den Ästen des Baumes vor ihrem Fenster hing ein dicker Meisenknödel, der war neu. Es hatte über Nacht doch endlich geschneit, und so war die schaukelnde Futterquelle umlagert von Vögeln. Gleich zwei Blaumeisen pickten am Knödel, auf dem Zweig darüber wartete eine Kohlmeise. Einige Zweige weiter schaute eine Gruppe von Spatzen sehnsüchtig zu, wissend, dass sie nicht geschickt genug waren. Und da hinten, war das etwa ein Buntspecht? Gisela musste sich zwingen, sich wieder auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Immer wieder kehrte ihr Blick zu dem lebhaften Treiben vor ihrem Fenster zurück, und jedes Mal zog ein Sonnenstrahl durch ihre Seele.
Am Dienstag stand plötzlich ein duftender kleiner Tannenzweig in einem mit Wasser gefüllten Glas auf ihrem Schreibtisch.
Und so ging es weiter, jeden Tag fand sie eine neue kleine Überraschung an ihrem Arbeitsplatz.
Am übernächsten Freitag war es ein Flyer mit einer Konzertankündigung. Er warb für ein kostenloses Orgelkonzert im Dom. Auf dem Papier klebte eine Haftnotiz: „Wusstest du, dass Kollege Gerald ein ausgezeichneter Organist ist? Morgen kannst du ihn spielen hören.“
So saß Gisela am Samstagabend im kühlen Dom, eingemummelt in ihren guten dunkelblauen Wollmantel, den feinen Kaschmirschal um den Hals gelegt. Die Beleuchtung war sparsam, das lange, von Säulen getragene Kirchenschiff verlor sich im Halbdunkel, das Auge fand wenig, um sich daran festzuhalten, und nichts lenkte von der Orgelmusik ab. Doch nach einer Weile begannen Giselas Gedanken zu wandern, auf denselben Pfaden, die sie sich in den letzten Wochen schon oft entlanggetastet hatten. Wer bloß legte ihr Tag für Tag diese – sie musste es zugeben – entzückenden Kleinigkeiten ins Büro? So sehr sie es auch versucht hatte, es war ihr nicht gelungen, jemanden auf frischer Tat zu ertappen. Und alle stritten ab, etwas damit zu tun zu haben. Auch die Schrift auf den Zetteln stammte nicht aus dem Team, sie war schließlich lange genug dabei, um die verschiedenen Handschriften zu kennen. Warum wollte ihr überhaupt jemand so hartnäckig eine Freude machen? Sicher nicht, weil sie so liebenswürdig zu ihren Kollegen und Kolleginnen war. Kratzbürstig, ja, das passte wohl eher. Und doch gab sich jeden Tag jemand, vielleicht auch mehrere Jemande, Mühe für sie …
Drei Tage später war der letzte Arbeitstag vor der Weihnachtspause. Den ganzen Tag schon lag eine erwartungsvolle Heiterkeit über den Fluren und Büros, alle waren ein bisschen herzlicher als sonst, lächelten ein bisschen breiter. Das war die Vorfreude, nicht nur wegen der bevorstehenden freien Tage, sondern vor allem, weil sich alle am Nachmittag noch einmal gemütlich zu Weihnachtsplätzchen und heißem Kakao in der Teeküche treffen wollten, bevor man für die Feiertage auseinanderging.
Gisela jedoch verließ das Büro schon eine ganze Weile vorher. Sie wünschte niemandem ein frohes Weihnachtsfest, verabschiedete sich nicht, und niemand sah sie, als sie mit leisen Schritten den Flur entlangging, die Tür zum Treppenhaus öffnete und verschwand.
Später saß der Rest der Belegschaft in der Teeküche um den großen Tisch. Die helle Deckenbeleuchtung war ausgeschaltet, dafür spendeten rote Stumpenkerzen gemütliches Licht, um sie herum Teller mit weihnachtlichen Leckereien, dazwischen lagen saftige Mandarinen und einige Tannenzweige. Auf dem Herd wärmte ein großer Topf mit Kakao und gab gelegentlich ein leises Rumpeln von sich. Die Stimmung war jedoch nicht so unbeschwert, wie die Atmosphäre früher am Tag es hatte erwarten lassen.
„Schon komisch“, sagte Bine leise. „Ich hätte wetten können, dass Gisela kommt. Haben wir uns die Mühe ganz umsonst gemacht?“ – „Dabei hatte ich wirklich das Gefühl, dass sie in letzter Zeit verträglicher ist. Wann haben wir sie das letzte Mal rumbrüllen hören? Ist doch schon ewig her“, überlegte Dorit und rührte gedankenverloren in ihrem Kakao. Torsten schüttelte den Kopf. „Einfach abgehauen!“ empörte er sich mit vollem Mund und wischte gleich darauf mit der flachen Hand ein paar feuchte Spekulatiuskrümel vom Tisch. Sie schwiegen wieder.
Ein Geräusch von der Tür her ließ alle Köpfe herumfahren. Die Türklinke bewegte sich nach unten, die Tür schwang auf, Gisela erschien. In beiden Armen hielt sie eine große rechteckige Keramikform, die mit Alufolie abgedeckt war.
„Hallo. Schön, euch zu sehen.“ Sie machte eine Pause, öffnete den Mund, schloss ihn wieder. „Ich … ich wollte danke sagen. Ihr wart das doch. Kann doch niemand anderes gewesen sein. Ich habe mich so gefreut, jeden Tag. Und geschämt habe ich mich auch, weil der Ärger manchmal mit mir so durchgeht. Naja. Ich gebe mir Mühe, versprochen, das kriege ich im neuen Jahr bestimmt besser hin. Und jetzt macht mal Platz auf dem Tisch: Ich habe euch schlesische Mohnklöße mitgebracht, Originalrezept von meiner Oma, die gab’s bei uns immer an den Feiertagen. Frohe Weihnachten!“
© Katja Heimann-Kiefer
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Nicht mehr in den Text gepasst hat die Überraschung, die Gisela an diesem letzten Tag an ihrem Platz gefunden hat, ein auf edlem Papier kunstvoll kalligrafierter Spruch: „Jeden Tag ein bisschen Liebe verschenken, heißt jeden Tag ein bisschen Weihnachten haben.“
Mit diesem Gedanken verabschiede ich mich bis zum neuen Jahr und wünsche Ihnen alles Gute.
Oh, hab Du vielen herzlichen Dank, liebe Katja –
diese Geschichte war ja ganz allerliebst.
Das war eine schöne Geschichte.
Ich wünsche Dir schöne Weihnachten.
Liebe Grüße
ElviEra
Danke für die froh machende Geschichte, Katja!
Es freut mich, dass euch die Geschichte Freude bereitet. Danke für eure Kommentare.