Katja Heimann-Kiefer schreibt über Übersetzen, Sprache und Text, Lesen und Vorlesen und den ganzen Rest

Weihnachtsgeschichte 2023

In einer Zeit mit immer mehr Kriegen, die den Frieden verdrängen, lohnt sich der Blick zu den Menschen um uns herum: Es gibt so viele Möglichkeiten, freundlich und friedlich miteinander umzugehen! Darum geht es in meiner Weihnachtsgeschichte 2023.

Wir sind doch alle Nachbarn

Ella Fitzgerald swingte Weihnachtliches und Ella Fuhrmann räumte das Geschirr ab. Gerade war ihr Überraschungsbesuch wieder gegangen. Bisher hatte sie Frau Koch aus dem zweiten Stock nur vom Grüßen im Treppenhaus gekannt. Jetzt war es Miriam für sie, Ella hatte ihr helfen können und fühlte sich innendrin noch richtig gut und warm.

 

Miriam hatte vor der Tür gestanden, sich an einer Packung Zimtsterne festgehalten und herumgedruckst. Im Wohnungsflur war sie schließlich mit der Sprache herausgerückt. Sie hatte gehört, dass Ella früher Werbetexterin gewesen war. Jetzt brauchte sie kundige Hilfe: Ihre beste Freundin sprach nicht mehr mit ihr, aber das Ganze war ein gewaltiges Missverständnis. Miriam war verzweifelt und suchte nach einem Weg, zur Freundin durchzudringen und die Sache aufzuklären. Doch im Umgang mit Worten war sie nicht geübt, wie sollte sie da die richtigen finden?

 

Bild zur Weihnachtsgeschichte: eine Teekanne neben einer brennenden Kerze am AdventskranzElla hatte erst einmal eine große Kanne Adventstee aufgebrüht. Dann hatte sie Block und Stift geholt und Miriam viele Fragen zur Situation und zu ihrer Freundin gestellt. Nach und nach hatten sie einen unwiderstehlichen Brief entworfen, der das Missverständnis aufklärte. Unter Dankeshymnen war Miriam nach getaner Arbeit aufgebrochen, den Briefentwurf fest an die Brust gedrückt.

 

Ella schloss die Spülmaschine und lächelte. Als Rentnerin fühlte sie sich zwar wohl, aber ihr Beruf hatte ihr immer Freude bereitet, da war es schön, die „Textmuskeln“ geschmeidig zu halten. Und um so schöner, wenn sie andere damit glücklich machen konnte.

 

Drei Tage später hielt Ella beim Nachhausekommen dem kleinen Tom die Haustür auf, der mit seiner Mutter im dritten Stock wohnte. Mit seinem überdimensionierten Schulranzen wirkte der schmale Kerl immer, als könne er jede erdenkliche Hilfe gebrauchen. Miriam stand bei den Briefkästen, sah Ella und eilte ihr entgegen. „Der Brief hat gewirkt!“, jubelte sie, „Jetzt ist alles wieder gut!“ Ella umarmte Miriam voller Freude und wunderte sich nur am Rande, warum Tom auf der untersten Treppenstufe stehengeblieben war und ihrem Gespräch mit offenem Mund lauschte.

 

Das erfuhr sie am nächsten Nachmittag, als Tom an ihrer Tür klingelte. Er hatte eine Zeitschrift dabei und legte sofort los: „Du kannst gut Briefe schreiben? Schreibst du mir auch einen?“

 

Seine Mutter hatte in der Zeitschrift ein Preisausschreiben entdeckt. Der Hauptpreis war eine Sommerreise an die Ostsee und sollte an die Person gehen, für die die beste Begründung eingereicht würde. Seine Mutter hatte zwar geseufzt, sie würden ja doch nichts gewinnen, aber ins Altpapier getan hatte sie die Zeitschrift auch nicht. Tom erklärte: „Ich glaube, Mama würde gerne mal verreisen. Wir sind noch nie verreist.“ Und schob ganz leise hinterher: „Die anderen Kinder in meiner Klasse fahren in den Sommerferien immer in Urlaub.“

 

Diesmal gab es zur Textarbeit heiße Honigmilch. Tom erzählte, Ella notierte, und gemeinsam entstand ein Brief in Toms Worten, den er anschließend sorgfältig ins Reine schrieb.

 

Ella suchte Briefumschlag und Briefmarke, Tom zog es zum Käfig von Ellas Wellensittich Caruso. Das Zwitschern des zitronengelben Vogels zog ihn an, und er juchzte, wenn Caruso sein Gezwitscher unterbrach und ihn mit schiefgelegtem Köpfchen prüfend ansah. Als Tom dann auch noch das Trinkwasser am Vogelbauer wechseln durfte, war sein Glück perfekt.

 

Der nächste Hausbewohner mit einem textlichen Anliegen kam schon am nächsten Vormittag. Diesmal war es beruflich. Herr Loschkin – „Dimi! Bitte, nennen Sie mich doch Dimi!“ – war der Filialleiter des nahegelegenen Supermarkts und wollte sein Angebot um einen Lieferservice erweitern. Dafür brauchte er einen Kredit und dafür wiederum einen Businessplan. Der natürlich perfekt sein musste. Er streckte ihr einige bedruckte Seiten entgegen. Ob Ella da wohl mal drübergucken könnte?

 

Ella konnte. Sie straffte den Stil, bereinigte die Zeichensetzung, wies sogar auf einige Unstimmigkeiten in den Zahlen hin. Dimi war hellauf begeistert und verließ sie mit dem Fazit, nun klänge alles viel besser. Lächelnd schloss Ella die Tür hinter ihm. Wenn das so weiterging, könnte sie ein Schild an die Tür hängen: „Ellas Textheilpraxis“.

 

Und es ging so weiter. Zwei Tage später stand Miriams Sohn Aron vor Ellas Wohnungstür und blickte sich nervös im Treppenhaus um. „Darf ich reinkommen, Frau Fuhrmann?“, fragte er leise. Ella trat beiseite, und schon stand er im Flur. Dort erklärte er, dass Ellas Erfolg bei seiner Mutter ihn beeindruckt hatte. Er selbst brauchte ebenfalls Hilfe, doch sein Anliegen war delikaterer Natur. Der junge Mann war verliebt und wollte seine Angebetete zu einem Date einladen. Aber Ella durfte auf keinen Fall irgendjemandem etwas verraten!

 

Ella bat Aron ins Wohnzimmer und ging in die Küche, um Tee aufzubrühen. Aron hielt es gerade einmal zehn Sekunden auf dem Stuhl, dann tigerte er durch das Zimmer. Schließlich blieb er vor der Anrichte stehen. Er betrachtete die gerahmten Fotos, die in einer langen Reihe darauf standen. „Wer ist das alles?“, fragte er, als Ella wiederkam. „Ihre Familie?“

 

Ella trat zu ihm an die Anrichte. „Ja. Ich muss leider mit Fotos vorliebnehmen. Alle sind entweder schon tot oder wohnen viel zu weit weg.“ Sie zeigte auf die Fotos. „Das sind meine Eltern, das meine Großeltern, das ist mein lieber Mann, der vor sieben Jahren viel zu früh gestorben ist. Und das und das sind meine Schwestern mit ihren Familien. Die eine wohnt in Nordnorwegen, die andere in Neuseeland. Beides ist zu weit für einen Weihnachtsbesuch.“

 

„Norwegen ist doch aber gar nicht so weit?“

 

„Für mich schon, Aron. Ich bin Rentnerin und kann keine großen Sprünge machen. Eine Reise nach Norwegen ist nicht drin. Zu Weihnachten leiste ich mir eine Gänsekeule, etwas Rotkohl und Salzkartoffeln und zünde Kerzen an. Das muss reichen. Gesellschaft habe ich von meinen Lieben auf der Anrichte. Das ist das Schönste an Weihnachten.“ Ella blickte verträumt auf die Fotos. Dann straffte sie sich und sagte energisch: „Aber genug von mir. Nun wollen wir uns um dich kümmern.“

 

Sie nahmen Platz, Ella legte die Unterarme auf den Tisch und sah Aron aufmerksam an. „Erzähl doch mal: Wie heißt sie denn, und was gefällt dir an ihr?“

 

Aron drehte den warmen Teebecher in beiden Händen und dachte nach. Kurz zog eine leichte Röte über sein Gesicht, dann lächelte er. „Aynur ist ganz besonders. Sie hat so schöne dunkelbraune Augen und tolle schwarze Locken. Sie lässt sich nichts sagen und weiß, was sie will. Aber sie ist auch richtig nett und hilfsbereit …“

 

Aron erzählte und erzählte, Ella machte Notizen, fragte nach. Langsam entstand ein herzerwärmender Brief, die schönsten Formulierungen darin stammten sogar von Aron selbst. Ein hochzufriedener Aron steckte seinen Briefentwurf schließlich zusammengefaltet in die Hosentasche und kündigte an, jetzt erstmal feines Briefpapier zu kaufen.

 

Die nächsten zwei Wochen vergingen, ohne dass jemand Ellas Textheilpraxis aufsuchte. Ein bisschen schade war das schon, überlegte Ella, als sie mit der gefüllten Einkaufstasche in der Hand auf ihre Wohnungstür zuging. Sie wollte den Schlüssel in das Schloss stecken, hielt aber in ihrer Bewegung inne: Die Tür war nur angelehnt. Was war da los? Vorsichtig drückte sie die Tür weiter auf. „Hallo? Ist da wer?“ Sie lauschte. Stille. Oder … drang da ein leises Rascheln aus der Wohnung? Sie knipste das Licht an, ging den Flur entlang zum Wohnzimmer und erschrak. Die Fotos ihrer Lieben von der Anrichte gefegt, alle Rahmen auf dem Boden, zersplittertes Glas. Ihre geliebten Schallplatten – Ella Fitzgerald und all die anderen großen Sängerinnen – auf dem Boden verstreut. Schubladen herausgezogen und durchwühlt. Sie war sprachlos vor Entsetzen. Mit aufgerissenem Mund betrachtete sie die Verwüstung ihres gemütlichen Heims.

 

Hinter sich hörte sie ein Geräusch, Schritte näherten sich rasch. Sie drehte sich um, doch schon traf sie ein kräftiger Schlag auf den Kopf. Sie verlor das Gleichgewicht, ihr Kopf schlug mit voller Wucht gegen einen Stuhl am Esstisch, sie wollte sich abstützen, aber ihr linker Arm gab mit einem hässlichen Knacken nach. Das hörte Ella noch, spürte den aufkommenden Schmerz, dann wurde es schwarz um sie.

 

Das Nächste, was sie wahrnahm, war Dimis aufgeregte Stimme. „Ella! Wach auf!“ Jemand schüttelte sie vorsichtig. Sie zwang sich, die Augen aufzuschlagen, und sah über sich Dimis besorgtes Gesicht. „Da bist du ja wieder!“ Aus der Sorge in seinem Gesicht wurde Erleichterung. „Bist du verletzt?“ – „Ich weiß nicht.“ Sie versuchte sich aufzurichten. Augenblicklich begann ihr Kopf zu pochen und durch die Bewegung verwandelte sich ihr Arm in einen einzigen brodelnden Schmerz. „Mein Kopf! Mein Arm!“ Ella erinnerte sich an das Knacken und ließ sich stöhnend wieder auf den Teppich sinken. Dimi wurde bleich. „Ich glaube, du blutest am Hinterkopf. Bleib einfach liegen.“ Er stand auf. „Ich rufe den Rettungswagen.“

 

Während Dimi telefonierte, fielen Ella die zerstörten Portraits ihrer Familiengalerie ein. Sie stöhnte, diesmal war der Schmerz jedoch ein anderer. Als Dimi wieder neben ihr kniete, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme: „Die Fotos … die Rahmen, auf dem Boden, alles kaputt.“

 

Dimi sah auf, entdeckte offensichtlich die Reste der Galerie. „Oh.“ Betroffenheit malte sich auf seinem Gesicht. „Mach dir keine Sorgen, ich räume das nachher auf.“

 

Dann sah er sie ganz freundlich an und drückte ihre Schulter, zum Glück die rechte. „Eigentlich bin ich ja gekommen, um mich bei dir zu bedanken. Mein Businessplan wurde angenommen! Ich habe dir eine Flasche von meinem feinsten Krimsekt mitgebracht, aber ich denke, das Anstoßen verschieben wir ein bisschen, hm?“

 

Einige Tage danach saß Miriam an Ellas Krankenhausbett und pellte eine Mandarine. Das konnte Ella mit ihrem operierten Arm nicht selbst. Miriam hatte ihr frische Kleidung aus ihrer Wohnung gebracht, außerdem Obst, der Vitamine wegen. „Du musst dir wirklich keine Sorgen um Caruso machen. Tom weiß, wie das mit dem Wasser geht. Der ist ein pfiffiger kleiner Kerl. Das Vogelfutter haben wir auch gefunden. Und es ist ja nur noch bis morgen. Deine Gehirnerschütterung ist weg, und ich komme morgen mit dem Auto und fahre dich nach Hause. So, bitteschön, einmal Mandarine in Stückchen.“

 

Am nächsten Tag holte Miriam Ella in ihrem Krankenzimmer ab. Ellas Arm hing in einer Schlinge, beim Anziehen hatte ihr eine Krankenpflegerin helfen müssen. Miriam trug Ellas Tasche, half ihr beim Einsteigen und beim Anschnallen.

 

Unterwegs war Ella auffallend still. „Was ist los?“, fragte Miriam, „Freust du dich gar nicht auf zu Hause?“

 

„Doch. Zu Hause ist es einfach am schönsten. Und ich habe Carusos Gezwitscher vermisst. Aber ich kann mich nicht richtig anziehen, kann nichts einkaufen, ich kann mir mit dem kranken Arm nichts kochen, und in drei Tagen ist Heiligabend. Und weißt du“, ihre Stimme wurde ganz klein, „das Schönste an Heiligabend ist für mich doch immer, dass meine Lieben als Fotos mit mir am Tisch sitzen. Dann schmeckt mein kleines Festmahl gleich nochmal so gut. Aber der Einbrecher hat alles kaputt gemacht, dieses Jahr werde ich ganz alleine sein.“ Sie schluckte. „Von den alten Fotos meiner Großeltern habe ich keine Negative mehr, ich weiß gar nicht, wie ich die nachmachen lassen kann.“ Sie schwieg und wischte sich mit dem gesunden Arm über die Augen.

 

Miriam schaute mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln zu ihr herüber. „Mach dir keine Sorgen, Ella. Wir setzen uns nachher zusammen, und dann finden wir schon eine Lösung. Auch für deinen Heiligabend.“

 

Zwanzig Minuten später standen sie vor Ellas Wohnungstür. Miriam reichte Ella ihren Schlüsselbund, den sie in den letzten Tagen benutzt hatte. „Kannst du selbst aufschließen?“ – „Ich kann es ja mal probieren.“ Ella steckte den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn, die Tür ging auf. Ella betrat ihre Wohnung und seufzte glücklich. Sie zog den Mantel aus und reichte ihn Miriam. „Bist du so nett und hängst ihn auf?“

 

Dann ging sie weiter ins Wohnzimmer. In der Tür blieb sie stehen, als hätte jemand auf den Stoppknopf gedrückt. Dort warteten Dimi, Tom und Aron und sehr dicht neben ihm ein Mädchen mit schwarzen Locken. Sie alle applaudierten und hinter Ella fiel Miriam in den Applaus ein. „Willkommen zu Hause!“, rief Miriam.

 

Ella blickte mit offenem Mund in die Runde. Ihr Gesicht begann zu leuchten. „Danke …“, sagte sie leise, dann versagte ihre Stimme. Sie ließ sich auf einen Stuhl am Esstisch sinken und sah sich um. Die anderen ließen ihr Zeit.

 

Zuerst entdeckte sie die Bilder auf der Anrichte. Schön aufgereiht, frisch gerahmt und wie durch ein Wunder ohne die Spuren, die die Scherben hineingeschnitten hatten. „Die Fotos! Wie habt ihr das gemacht?“ – „Ich bin doch Grafikerin, Ella“, meldete sich Miriam zu Wort. „Einscannen und reparieren, das ist für mich ein Klacks.“ – „Oh, Miriam …“

 

Aron fasste das Mädchen neben sich an der Hand und zog sie in Ellas Richtung. „Darf ich Ihnen Aynur vorstellen?“ Er blickte Aynur an und sah überglücklich aus. „Aynur und ich haben das Durcheinander aufgeräumt und saubergemacht. Und ein bisschen weihnachtlich dekoriert.“ Er deutete mit der Hand auf eine unter der Decke gespannte Schnur, an der duftende Tannenzweige, Strohsterne und kleine rote Weihnachtskugeln hingen.

 

„Oh, wie schön“, konnte Ella gerade noch murmeln, dann hielt Dimi es nicht länger aus. Er hob hinter der Anrichte einen Korb hervor und stellte ihn auf den Tisch. Es war ein richtiger Fresskorb, prallvoll mit Delikatessen: eine große Mettwurst, eine Flasche Glühwein, Dominosteine, Schokolade, Adventstee, ein Glas Rotkohl und noch einiges mehr, was Ella so schnell gar nicht erfassen konnte. „Noch ein Dankeschön von mir“, erklärte Dimi eifrig, „ein paar Leckereien, damit du es dir zu Hause so richtig gemütlich machen kannst!“

 

Jetzt lachte und weinte Ella gleichzeitig. „Danke, danke euch allen! Was habe ich für ein Glück!“

 

Miriam erwiderte: „Du hast uns geholfen. Jetzt helfen wir dir. Wir sind doch alle Nachbarn!“

© Katja Heimann-Kiefer
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Ich wünsche Ihnen frohe und friedliche Feiertage und einen guten Start ins neue Jahr 2024!

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