Katja Heimann-Kiefer schreibt über Übersetzen, Sprache und Text, Lesen und Vorlesen und den ganzen Rest

Eine Weihnachtsgeschichte

Eine Weihnachtsgeschichte, von mir für Sie. Holen Sie sich einen heißen, duftenden Tee und einen Teller mit Plätzchen und reisen Sie, na, sagen wir fünfzig, sechzig Jahre zurück zu einem kalten Hamburger Heiligabend …

Kleine Ursache, große Wirkung

Marthe fror. Ihren Heiligabend hatte sie sich anders vorgestellt, jetzt stand sie schon bald anderthalb Stunden in dieser zugigen, dunklen Ecke hinter dem Kiosk. Fridtjof hätte längst hier sein müssen. Sie wollten doch heute in ihr gemeinsames Glück starten, ganz heimlich. Schade, aber was blieb ihnen anderes übrig, wenn ihre Eltern nichts von Fridtjof hören wollten? „Bloß ein armer Schlucker“, sagte Vater immer, und damit war die Diskussion dann beendet. Ach, was wusste Vater denn schon! Sicher, Fridtjof stand nach dem Tod seiner Eltern mittellos da, aber er war fleißig und hatte zwei kräftige Hände, die tüchtig zupacken konnten – und doch ganz sanft waren. Und seine lieben, warmen hellbraunen Augen …

 

Marthe seufzte, zog ihr Wolltuch enger um die Schultern und trat von einem Fuß auf den anderen. Auf der großen Straße weiter vorne war schon seit geraumer Zeit kein Auto mehr entlanggefahren, und hinter immer mehr Fenstern in den dunkel geklinkerten Fassaden der umliegenden Wohnhäuser gingen heimelige Lichter an. Dort oben kamen jetzt Familien zusammen, froh, miteinander Weihnachten zu feiern. Selbst die Kioskfrau hatte vorhin ein Licht nach dem anderen ausgemacht, den Kiosk zugeschlossen und war am Arm eines Mannes mit dicker Nase und Schiebermütze davongeschnauft. „Ach, min Deern“, hatte sie gesagt, „he kummt nich mehr. Gah man no Hus, is doch Wiehnachtsobend!“

 

Natürlich würde Fridtjof noch kommen, Marthe war ganz sicher gewesen. Doch mittlerweile wurden ihre Zweifel immer lauter. Ein weiteres Mal zog sie seine Nachricht aus der Manteltasche. „Um 4 Uhr nachmittags hinter dem Kiosk Hammersteig. In Liebe, F.“ Sie hob den Blick und las erneut, was in weißer Schrift auf dem dunkelblauen Straßenschild stand: „Hammersteig“. Im Schein der Straßenlaterne sah sie eine Schneeflocke nach unten schweben, dann noch eine und noch eine und immer mehr. Jetzt begann es auch noch zu schneien. Ach, Fridtjof! Was für ein himmlischer Heiligabend hätte das sein können … Die Kirchturmuhr in der Nähe schlug halb sechs. Sie könnte es noch rechtzeitig nach Hause schaffen, bevor Mutter die Würstchen aufgewärmt und den Kartoffelsalat abgeschmeckt hätte. Sie seufzte noch einmal, nahm den alten Pappkoffer vom Boden auf und trottete los.

 

Das Weihnachtsfest in diesem Jahr brachte Marthe mehr schlecht als recht hinter sich, herzlich bedauert von ihrer Familie, dass ihr ausgerechnet zum Fest so eine schlimme Magenverstimmung den Appetit, den Frohsinn und den Glanz in den Augen raubte. Nach den Feiertagen versuchte sie, Fridtjof an seiner bisherigen Anschrift zu erreichen. Doch er war Heiligabend abgereist, Ziel unbekannt, seine Vermieterin bedauerte.

 

Viele Monate gingen ins Land. Nach und nach fiel die Traurigkeit von Marthe ab. Irgendwann lernte sie Paul kennen, er bediente in der Elektrowarenhandlung. Bald darauf heirateten sie. Er übernahm das Geschäft, sie bekamen Kinder, später Enkel. Es waren gute Jahre, und Marthe war zufrieden. Nach Pauls Tod richtete sie sich, obwohl es anfangs schwer war, schließlich auch in ihrem Leben als Witwe ein. In all den Jahren gelang es ihr, nur selten an Fridtjof zu denken. Am schwierigsten war das immer an Heiligabend, doch dafür hatte Marthe ihre ganz eigene Strategie entwickelt. Ihre Familie genoss die aufwändigen und abwechslungsreichen Festtagsmenüs, die sie ihnen Jahr für Jahr vorsetzte, doch ihre Lieben ahnten nicht im Entferntesten, dass all das Planen, Einkaufen, Schnippeln, Reiben, Rühren, Braten, Schmoren und Dekorieren im Wesentlichen dazu diente, Marthes Denken so mit Beschlag zu belegen, dass in diesen Tagen für Erinnerungen an Fridtjof kein Platz war.

 

Dieses Jahr hatte sie ihre Enkelin gebeten, ihr zu helfen. Den Kloßteig bereitete sie gerne schon am Vortag zu, aber das Hantieren mit Kartoffeln und Reibe war für ihre alten Knochen langsam zu anstrengend. „Omi“, sagte Maja nun, „warum machst du eigentlich jedes Jahr so einen Riesenaufwand mit dem Essen? Halb so viel würde doch reichen, oder wir bringen einfach alle etwas mit. Es fällt dir doch immer schwerer.“ Sie wischte ihre Finger an der Schürze ab, strich sich eine braune Strähne hinter das Ohr und griff nach der nächsten Kartoffel. Marthe, das Schälmesser in der Hand, antwortete nicht. Ihr war ein Gedanke gekommen. Maja hielt mit dem Reiben inne, sah sie besorgt an. „Omi?“ – „Warum ich das mache? Dann will ich dir das mal erzählen. Bin gleich wieder da.“ Entschlossen stand Marthe auf und verließ die Küche. Kurz darauf kam sie wieder, in der Hand einen Briefumschlag, dessen Ränder ganz vergilbt waren. „Weißt du, Maja, du warst doch im Sommer so verliebt, in diesen Eric …“  – „Omi! Erinnre mich nicht an den!“ – „Siehst du, du willst nicht an den denken. Es gibt auch in meinem Leben jemanden, an den ich all die Jahre nicht erinnert werden wollte. Darüber habe ich nie gesprochen. Wasch dir mal die Hände, dann darfst du dir ansehen, was er mir damals geschrieben hat. Er hieß Fridtjof, und wir wollten eigentlich zusammen fortgehen. Es war Heiligabend …“

 

Am folgenden Tag war wieder Heiligabend. Draußen ging das trübgraue Tageslicht in eine blaue Dämmerung über. Marthe prüfte noch einmal den gedeckten Tisch: poliertes Silberbesteck, die guten Kristallgläser, Stoffservietten – alles ganz festlich, so war es richtig. Sie schloss die Augen und spürte der Stille nach, ein letzter Moment der Ruhe, bevor der Weihnachtstrubel losging. Nicht lange danach klingelte es, sie ging langsam zur Haustür, öffnete. Ein lautes, lachendes Knäuel aus Kindern, Schwiegerkindern und Enkeln quoll mit großem Hallo in die Diele. Man umarmte einander, stellte Taschen und Tüten ab, wand sich aus Schals, hängte Jacken auf. In dem ganzen Durcheinander nahm Maja sie beiseite. „Komm mal mit.“ Sie zog sie in die Küche, schloss die Tür leise, aber mit Nachdruck, und überreichte ihr mit zufriedener Miene einen Umschlag. „Für Omi“ stand in roten Buchstaben darauf. Marthe blickte Maja fragend an. Die nahm ein Messer aus der Besteckschublade und reichte es ihr. „Mach auf.“ Als Marthe las, was Maja ihr aufgeschrieben hatte, sank sie auf den Küchenstuhl.

 

„Liebe Omi, über das Internet habe ich Fridtjof für dich gefunden. Er wohnt wieder hier in Hamburg und würde sich freuen, dich zu sehen. Er sagt, er hat damals so lange am Hammer Stieg auf dich gewartet. Hier seine Adresse: …“

© Katja Heimann-Kiefer
Verlinken erwünscht, Kopieren verboten.

Ich hoffe, Marthes Geschichte hat Ihnen gefallen. Zugegeben, sie ist nicht ganz werbefrei, zeigt sie doch, welche gravierenden Folgen Nachlässigkeiten in Texten haben können.

Mit dieser Geschichte schicke ich den Blog in die Weihnachtspause. Ich wünsche Ihnen frohe und erholsame Feiertage, und mögen Sie Ihre Lieben um sich haben. Bleiben Sie gesund – wir lesen uns nächstes Jahr wieder!

rot-weißer Weihnachtsstern aus Papier

10 Kommentare

  1. Wow! „Nur“ ein Schreibfehler – und ich habe nach dem Lesen dieser Geschichte eine veritable Gänsehaut … Wie nah so eine toll geschriebene Geschichte uns doch gehen kann!
    Danke dafür,
    lieben Gruß – und wundervolle Weihnachtstage
    Maria

  2. Pingback: Hören Sie es? Das neue Jahr ruft! - edition texthandwerk | Selfpublishing & mehr

  3. Auf diese nette Geschichte bin ich jetzt erst mit Verspätung gestoßen, aber sie liest sich auch nach Weihnachten noch ganz hervorragend – atmosphärisch, humorvoll und dank des charmanten Endes auch richtig anrührend. Danke fürs Schreiben und Posten!

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