„Die Wut, die bleibt“ von Mareike Fallwickl ist mein Buch des Jahres 2023. Es hat Wucht, es ist ein Hammer und hinterlässt bleibenden Eindruck. Ich habe es zwei Freundinnen ausgeliehen, sie waren davon ebenso bewegt wie ich.
Worum geht es?
Es ist Corona-Pandemie. Schulen und Kitas sind geschlossen, Familien schmoren zu Hause im eigenen Saft. Eltern – das heißt allzu oft, wie auch in diesem Fall: die Mütter – sind tagein, tagaus mit den Kindern zusammen. Dieser Dauereinsatz frisst Energie, lässt keinen Ausweg, keinen Freiraum. Er zehrt am Ich, saugt leer. Helene schließlich hat keine Kraft mehr, eine Bemerkung ihres Mannes über das fehlende Salz lässt sie aufstehen, sie geht zum Balkon und springt.
Helene hinterlässt ihren Ehemann Johannes und die beiden kleinen Söhne Maxi und Lucius, außerdem ihre große Tochter Lola aus einer früheren Beziehung. Und ihre beste Freundin Sarah, kinderlos und erfolgreiche Autorin. Für sie alle bricht die Welt zusammen. Sie sind fassungs- und ratlos traurig. Niemand hat es kommen sehen, niemand versteht, warum Helene das getan hat.
Doch das Leben geht weiter. Johannes ist beruflich sehr eingebunden, und so zieht schließlich (ausgerechnet!) Sarah zur Familie, um sie durch den Alltag zu bringen. Sie tut das auch deshalb, weil sie ein schlechtes Gewissen hat: Sarah und Helene kannten sich seit dem Kindergarten, und Sarah macht sich Vorwürfe, dass sie nicht begriffen hat, wie es Helene wirklich ging. Durch ihren Einsatz in der Familie versteht sie allmählich, was Helene aufgefressen hat.
Lola dagegen, kurz nach dem Tod ihrer Mutter 15 geworden, sieht hin, erkennt und zieht ihre eigenen Schlüsse. Auch sie war und ist traurig, ihre Mutter fehlt ihr. Aber von Anfang an ist da auch eine Wut in ihr. Zusammen mit ihrer besten Freundin entdeckt sie neue Wege: Frauen können stark und solidarisch sein, und sie müssen sich nicht so verhalten, wie es gemeinhin von Frauen erwartet wird.
Warum empfehle ich dieses Buch?
Sarah konnte sich vor ihrem Einsatz nicht vorstellen, warum Helene manchmal sagte, dass sie müde sei, und was für ein „müde“ sie damit überhaupt meinte. Verständlich, denn diese Lebenswelt war Sarah fremd. Zusammen mit Sarah erleben wir, wie die unsichtbare, so oft übersehene und gering geschätzte Familienarbeit anstrengt und anbindet.
Eine unerwartete Perspektive, auf das Verhalten, das Frauen offensteht, eröffnet Lola als junge Frau, die noch viel Zukunft vor sich hat. Man muss ihre Schlüsse nicht teilen, aber die Umkehrung des Gewohnten ist sehr erhellend.
„Die Wut, die bleibt“ ist ein großartiges und feministisches Buch. Mareike Fallwickl nimmt kein Blatt vor den Mund. Ihr Buch langt ohne Umschweife dahin, wo es wehtut. Wie gesagt: ein Hammer.
Das Buch als Theaterstück
„Die Wut, die bleibt“ gibt es inzwischen auch als Bühnenfassung. Das Stück wurde mit großem Erfolg bei den Salzburger Festspielen aufgeführt, läuft seit Herbst 2023 im Schauspiel Hannover und wurde 2024 wegen der großen Nachfrage ins Schauspielhaus verlegt.
Ich habe die kraftvolle Inszenierung Anfang Oktober gesehen und war sehr beeindruckt, wie gut es gelungen ist, das Buch mit seinen vielen Gedanken und Gefühlen als Schauspiel umzusetzen. Als besonderes Glück empfand ich es, dass just an dem Abend Mareike Fallwickl und die Regisseurin Jorinde Dröse, die das Buch mit großem Engagement auf die Bühne geholt hat, zu einem hochinteressanten Podiumsgespräch anwesend waren. Einen Eindruck vermittelt dieses Interview mit Mareike Fallwickl und Jorinde Dröse im NDR.
Technische Daten
- „Die Wut, die bleibt“ von Mareike Fallwickl, Roman
- Rowohlt Hundert Augen
- Taschenbuch*, 384 Seiten, 14,00 €, ISBN 978-3-499-00912-9
- Hardcover*, 384 Seiten, 22,00 €, ISBN 978-3-498-00296-1
- E-Book*, 9,99 €, ISBN 978-3-644-01330-8
* Bitte kaufen Sie Bücher bei Ihrem Buchladen vor Ort. Oder, wenn es online sein muss, beim Shop der Autorenwelt (der Autoren und Autorinnen mehr zahlt als der reguläre Buchhandel).
Danke, liebe Katja, dass du mir dieses Buch letztes Jahr ausgeliehen hast. Wie du schreibst: ein Hammer. Eine Erkenntnis war auch: Wir sind viele. Das wurde mir auch in der Theateraufführung bewusst, als die Frauen um mich herum wissend seufzten. Es bleibt noch viel zu tun …
Es war mir ein Vergnügen, liebe Andrea, und es freut mich besonders, dass ich die Kunde von diesem Buch dadurch wieder ein Stück weitertragen konnte.
Ja, noch viel zu tun …