Katja Heimann-Kiefer schreibt über Übersetzen, Sprache und Text, Lesen und Vorlesen und den ganzen Rest

Vorlesen für Kinder – von ganz klein bis groß

Eines meiner Hobbys: in der Grundschule vorlesen. Das macht mir große Freude und ich hoffe, damit in Kindern die Freude an Geschichten und Büchern zu wecken. Sicher gibt es Kinder, die das von zu Hause nicht kennen. Wie das Heranführen an Bücher von Anfang an gelingt und Eltern wie Kinder ihren Spaß daran haben, das hat meine Kollegin Daniela Dreuth in ihrem Gastartikel hier aufgeschrieben.

In Sprache baden

Mein ältester Sohn war noch sehr klein, als mein Mann und ich im Radio hörten, Kinder sollten „in Sprache baden“. Denn auch wenn die Kinder sich noch nicht verbal äußern können, erfassen sie schon die wichtigsten Strukturen der Sprache und legen damit den Grundstein für ihren Spracherwerb und ihre späteren Sprachfertigkeiten. Doch was soll man den ganzen Tag mit einem Baby oder Kleinkind sprechen? „Hier ist das rote Klötzchen“ beim Spielen und „Schau mal, dort ist ein Hund“ beim Spaziergang – das ist auf jeden Fall gut, aber nicht tagesfüllend. Deswegen ist es sinnvoll, früh mit dem Vorlesen anzufangen.

Ein Stoffbuch für Kleinkinder, die aufgeschlagenen Seiten zeigen einen Baum und einen ApfelSobald das Kind auf dem Schoß sitzen kann, kann man mit Plastik-, Stoff- und Pappbilderbüchern loslegen, die es aushalten, auch einmal angesabbert zu werden. Diese ersten Bücher zeigen meist nur sehr einfache Bilder aus der Lebenswelt der Kinder: einen roten Ball, eine blaue Tasse und eine grüne Socke. Das Dargestellte ist schnell erklärt, aber man kann drumherum so viel erzählen, z. B. dass die Tasse des eigenen Kindes gelb ist, das Kind am liebsten warme Milch daraus trinkt und es heute traurig war, weil die Lieblingstasse gerade in der Spülmaschine war. Ganz egal!

Vorlesen ist Quality Time

Andere Eltern haben mir oft erzählt, dass ihre Kinder keine Geduld zum Vorlesen haben und nicht still sitzen wollten. Doch lieben es nicht (fast) alle Kinder, mit Mama oder Papa zu kuscheln? Vorlesen ist Quality Time, Gelegenheit zum Schmusen und für Körperkontakt. Zeit, in denen die Kinder volle Aufmerksamkeit genießen.

Bei den meisten Kindern wird das Vorlesen nicht klappen, wenn sie gerade ausgeschlafen haben und voller Bewegungs- und Entdeckerdrang sind. Aber wenn sie nach dem Toben eine kleine Auszeit brauchen oder abends schon ein wenig müde sind, ist der richtige Moment gekommen, um das Kind auf den Schoß und ein Buch zur Hand zu nehmen. Das Vorlesen wird so mit etwas Angenehmen verbunden und oft auch eingefordert. Ganz schnell wird eine liebgewonnene Routine daraus – und dann hat man eigentlich schon gewonnen.

Bekanntes in Büchern wiederfinden

Schnell wachsen die Kinder aus den Bilderbüchern für die Allerkleinsten heraus und man kann zu anderen, etwas komplexeren Büchern mit mehr Inhalt übergehen. Der richtige Zeitpunkt ist je nach Kind verschieden, aber es ist nicht schwer, ihn zu finden. Man muss einfach nur immer mal etwas Neues anbieten und schauen, ob es auf Interesse stößt. Wenn nicht, legt man das Buch einfach noch einmal eine Weile beiseite.

Besonders beliebt sind Wimmelbilder, auf denen die Kinder etwas suchen und immer wieder Neues entdecken können – es gibt sie schon für Kinder ab 18 Monaten. Interessiert sind Kinder in diesem Alter an bekannten Dingen: Haustiere, der Spielplatz, das Zuhause, der Garten oder Park, vielleicht das Meer, wenn man dort wohnt oder dort gerade Urlaub macht, ein Besuch bei den Großeltern, Berufe, die sie um sich sehen und erleben …

Dann geht es in großen Schritten weiter zu Bilderbüchern mit immer mehr Text und Geschichten, die auch in Fantasiewelten spielen können. Wichtig ist es, die Fragen der Kinder zu beantworten, auch wenn man dann im Buch langsamer vorankommt. Das Vorlesen ist schließlich kein Wettbewerb, es kommt nicht darauf an, möglichst viele Bücher in möglichst kurzer Zeit zu schaffen. An den Fragen merkt man, ob die Kinder der Geschichte folgen können, man kann ihnen neue Wörter erklären und ihre Ausdrucksfähigkeit wird geübt.

Vorlesen kann anstrengend sein

Manchmal kann die Vorleserei hart für die Eltern werden. Die Kinder fordern das immer gleiche Lieblingsbuch ein, das die Eltern womöglich auch noch schrecklich finden (Wer hat das eigentlich geschenkt?), kennen die Geschichte in- und auswendig und tolerieren keine Abweichungen. Kinder, die gelernt haben, Geschichten zu lieben, wollen womöglich immer noch mehr, obwohl die Schlafenszeit eigentlich schon vorbei ist oder die oder der Vorlesende schon längst Knoten in der Zunge hat. Dann ist die Versuchung groß, ein Hörbuch anzumachen. Und ja, auch das ist okay, denn auch damit baden die Kinder in Sprache, lernen, sich auf eine Handlung zu konzentrieren und erweitern ihren Wortschatz. Aber noch besser ist es, wenn sie nicht nur zuhören, sondern auch Bilder anschauen, Zwischenfragen stellen und kommentieren können.

Wenn die Eltern ein geliebtes Buch nicht mehr ertragen, können sie es auch einfach mal bei Oma vergessen oder hinters Regal rutschen lassen. Das mehr oder weniger große Drama muss man dann eben aushalten, bis eine neue Lieblingsgeschichte gefunden ist. Kann das Kind allerdings erfahrungsgemäß nur nach dieser Geschichte einschlafen, sollte vielleicht doch lieber Abstand von solch einer Aktion nehmen.

Wie lange vorlesen?

Viele Eltern hören mit dem Vorlesen auf, wenn die Kinder in die Schule kommen oder anfangen, selbst zu lesen. Doch gerade dann ist es sehr wichtig, damit weiterzumachen. Die Kinder sind vom Vorlesen richtig tolle, komplexe Geschichten gewohnt. Die ersten Bücher jedoch, die sie selbst lesen können, erzählen nur sehr einfache Geschichten in kurzen Sätzen mit einfachen Wörtern. Das ist für Vorlesefans oft unbefriedigend. An diesem Punkt hat schon manches Kind das Interesse an Büchern verloren. Deswegen heißt es, noch ein bisschen durchzuhalten, bis das Kind wirklich sicher liest. Es lohnt sich!

Es macht vielen Leseanfängern auch Spaß, immer mal einen Satz abwechseln mit dem Vorlesenden zu lesen. Doch sollte man es nicht übertreiben und die Kinder zu sehr drängen, wenn sie keine Lust haben oder müde sind, damit aus dem Vergnügen keine unangenehme Arbeit wird.

Was ist, wenn man den richtigen Zeitpunkt verpasst hat?

Das klingt alles so einfach, aber vielleicht hat es bei Ihnen so nicht geklappt, warum auch immer. Oder Sie wollen fremden Kindern vorlesen, die das von zu Hause gar nicht kennen, nicht stillsitzen können oder nur eine kurze Aufmerksamkeitsspanne haben. Das ist schwierig und kann richtig anstrengend werden. Doch es ist auf jeden Fall lohnend! Hier ist es besonders wichtig, Bücher zu finden, die dem Kind gefallen. Jungs können oft mit Büchern über Feen oder Einhörner nichts anfangen. Manche Kinder stolpern über ihnen fremde Lebenswelten, weil sie die häufig dargestellte Familienidylle mit arbeitendem Papa und der Nur-Hausfrau-Mama im Einfamilienhaus mit Garten gar nicht kennen und sich davon nicht angesprochen fühlen. Nicht jeder Junge steht auf Fußball, nicht jedes Mädchen findet Prinzessinnen toll. Da gilt es, ein wenig zu suchen. Welche Interessen hat das Kind? Vielleicht wird es von einem Sachbuch besser abgeholt – es gibt inzwischen viele wundervolle Sachbücher für Kinder, die die verschiedensten Themen behandeln.

Anfangs wird es unter Umständen auch nötig sein, Verhaltensweisen zu tolerieren, die man beim Vorlesen eigentlich nicht mag. Wenn das Kind immer wieder aufspringt und etwas anderes macht, kann es helfen, wenn es währenddessen mit Lego oder Playmobil spielt. Wenn es nur kurz zuhört, sollte man immer wieder Pausen einlegen und versuchen, die Zeit von Mal zu Mal zu steigern. Vielleicht kann man ein kleines Ritual erfinden, zum Beispiel bekommt das Kind einen Muffin und einen Kakao, solange es isst, wird vorgelesen. Hier kommt es immer auf die Gegebenheiten an und man muss erfinderisch sein.

Für Kindergruppen gelten wieder ganz eigene Regeln. Über ihre Erfahrungen damit berichtet Katja Heimann-Kiefer hier im Blog.

 

Über Daniela Dreuth:

Als Freie Lektorin lektoriert Daniela Dreuth besonders gerne Bücher für Kinder. Als Bloggerin schreibt sie seit 2010 im Kinderohren-Blog über Kinderbücher und -hörbücher, findet derzeit allerdings viel zu selten die Zeit dafür.

Ein Stoffbuch für Kleinkinder, es zeigt einen schlafenden BärenDer Kinderohren-Blog lohnt unbedingt – ein tolles Buch, das mein Sohn damals sehr liebte und das ich heute noch mit größtem Vergnügen vorlese, habe ich in Danielas Blog entdeckt!

Beim ersten Lesen von Danielas Text fielen mir gleich schöne Vorlesemomente aus der Zeit ein, in der mein Sohn klein war: Sein allererstes Buch – ein wunderschönes Stoffbuch, das meine Mutter für ihn genäht hat und das auf den Bildern hier abgebildet ist. Auf dem Sofa gekuschelt den Räuber Hotzenplotz vorlesen, während draußen vor dem Fenster die Schneeflocken herabschwebten. Oder die Findus-Bücher, die sich so lebhaft vortragen ließen und in deren Bildern voller Skurrilitäten wir uns verlieren konnten, da brauchte ein Buch schon mal eine Dreiviertelstunde … Schön war das!

Danielas Artikel ist ein Geschenk für meinen Blog: In unserem Netzwerk Texttreff gibt es das Blogwichteln, bei dem man einander mit Blogbeiträgen beschenkt. Danke, liebe Daniela!

(Falls Sie nachlesen möchten, was ich im Rahmen dieser Aktion verschenkt habe: Hier entlang!)

 

 

2 Kommentare

  1. Moin,
    ich hatte wieder ein großes Lesevergnügen über die Überlegungen für das Heranführen von Kindern an Bücher – mit welchen Schwierigkeiten dabei zu rechnen ist und wie sie gemeistert werden können.
    Danke,
    Vera

    V. H.

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