Soll man Texte in die Muttersprache übersetzen oder in die Fremdsprache? Die Frage stellt sich ebenso für das Lektorat: Ist es sinnvoll, fremdsprachige Texte zu lektorieren? Oder ist das egal?
Muttersprachenprinzip? Kommt drauf an!
Die Frage nach dem Muttersprachenprinzip – Übersetzen in die Muttersprache – wird von Übersetzern und Übersetzerinnen immer wieder heiß diskutiert. Man kann davon ausgehen, dass die Muttersprache* die Sprache ist, die jemand am besten beherrscht. Das ist ein Vorteil, wenn man einen Ausgangstext bis in die letzten Feinheiten verstehen möchte, aber auch, wenn man einen Zieltext formulieren will, an dem bis zum letzten i-Tüpfelchen alles stimmt. Es kommt also darauf an, nämlich auf den Zweck des Textes, der entstehen soll.
Ein Übersetzerkollege berichtete vor einigen Jahren, dass er aufgrund seiner Erfahrungen sehr anspruchsvolle technische Texte nur noch aus der Muttersprache in die Fremdsprache übersetzen lässt. Für seine Zwecke geht Korrektheit vor sprachlicher Schönheit: Hauptsache, alle Details des Ausgangstextes werden exakt transportiert. Sprachliche Falten lassen sich danach immer noch ausbügeln. Der Kollege hat unbestritten seine Erfahrungen gemacht, allerdings speziell für die Kommunikation technischer Inhalte, also eine eng umrissene Situation.
Ich finde keine andere Konstellation, in der die Übersetzung in die Fremdsprache bzw. die nicht muttersprachliche Bearbeitung die bevorzugte Variante sein könnte. Die meisten Texte, die ich in meiner Berufspraxis antreffe, haben andere Zwecke: Sie überzeugen, werben, unterhalten, informieren, erklären. Diese Zwecke lassen sich um so zuverlässiger erreichen, je besser der Text ist. „Besser“ heißt hier kulturell angemessen, natürlich fließend, frei von ungelenken Formulierungen und sprachlichen Stolpersteinen – ein Text mit dem Stallgeruch der Zielsprache und ‑kultur. Sie ahnen es sicher schon: Solche Texte kann man nur in der eigenen Muttersprache produzieren.
Texte ohne Stallgeruch
Zur Übersetzungsausbildung gehört das Übersetzen in die Fremdsprache; das war in meinem Studiengang Fachübersetzen so und gilt sicher auch für andere einschlägige Ausbildungsgänge. Deshalb gibt es viele deutsche Kolleginnen und Kollegen, die auch in die Fremdsprache übersetzen. Sie bieten das auf ihren Websites an, Stellenausschreibungen verlangen ganz selbstverständlich das Erstellen und Lektorieren fremdsprachlicher Texte, und viele Deutsche sind ohnehin der Meinung, hervorragend Englisch zu können; vielfach fehlt das kritische Bewusstsein der eigenen Grenzen.
Die so entstandenen Texte findet man an vielen Stellen im Internet und anderswo, und man erkennt sie leider schnell**. Sie mögen handwerklich solide sein, frei von Fehlern, die in einer Klausur rot angestrichen würden, aber der erwähnte Stallgeruch fehlt ihnen. Wo ein echter englischer Text voller Leichtigkeit und Eleganz ist, kommt der englische Text aus deutscher Feder allzu oft langweilig, schwerfällig und behäbig daher. Wie gut kann so ein Text wohl überzeugen, werben oder unterhalten?
Mein Aha-Erlebnis hatte ich vor einigen Jahren bei einem Übersetzungsauftrag. Er hat mir deutlich vor Augen geführt, wie grundlegend anders ein von Deutschen geschriebener englischer Text sein kann. Ich wunderte mich damals, dass mir die deutsche Übersetzung des englischen Textes so leicht von der Hand ging wie selten, ich konnte das Deutsche beim Lesen des englischen Textes fast ohne Nachdenken herunterschreiben (und so funktioniert Übersetzen nicht!). Dann wurde mir klar: Den Text hatte jemand mit Deutsch als Muttersprache geschrieben. Struktur, Ausdrucksweise, alles war von Grund auf deutsch. Ich hatte quasi einen englisch angemalten deutschen Text vor mir und musste nur die aufgetragene Farbschicht entfernen.
Eine Frage des Ansehens
Falls Sie sich fragen, ob der Unterschied zwischen sehr guter Beherrschung der Fremdsprache und muttersprachlicher Sprachkompetenz wirklich so viel ausmacht: Ja! Auch wenn man den Finger schlecht darauflegen kann, spürt man sofort, dass der Text nicht so klingt, wie er klingen sollte. Sie können sicher sein, dass Ihre Zielgruppe das ebenso spüren wird. Und der instinktive Schluss von der Textqualität auf die Qualität der angebotenen Produkte und Leistungen kommt dann schneller, als Ihnen lieb ist …
Ich kann deshalb nur allen raten, die jemanden für eine Übersetzung oder ein Lektorat suchen oder diese Leistungen selbst anbieten, ehrlich und mit höchsten Ansprüchen an diese Aufgabe heranzugehen. Wenn der Text dem Image eines Unternehmens dienen soll (etwa als Broschüre, Website, Whitepaper, Werbeanzeige usw.), muss er von Personen bearbeitet werden, die in der gewünschten Sprache wirklich zu Hause sind. Falls aus terminlichen oder fachlichen Gründen eine Übersetzung in die Fremdsprache erforderlich ist, können Sie anschließend immer noch ein muttersprachliches Lektorat durchführen lassen. Springen Sie also nicht zu kurz, schließlich geht es um Ihr Ansehen!
* Lebenswege von Menschen sind unendlich spannend und vielfältig. So kann es sein, dass man in einer Sprache am versiertesten ist, die nicht die Sprache der Eltern ist oder nicht die Sprache, in der man aufgewachsen ist. Definieren wir Muttersprache daher grob als die Sprache, in der man lebt, träumt, zählt, betet und flucht.
** Beispiele finden Sie schnell, wenn Sie anhand von „Imprint“ nach englischsprachigen Websites deutscher Firmen suchen. Deutsche Websites benötigen ein Impressum, das für die englischsprachige Version oft als „Imprint“ übersetzt wird – doch leider ist das falsch. Alleine schon deshalb, weil es das Konzept eines Website-Impressums im englischen Sprachraum nicht gibt und folglich auch kein Wort dafür. Sie können die Seite z. B. „Legal Notice“ nennen. Bei mir ist sie schlicht als „Contact and data protection“ verlinkt.
And why not „Data protection“ instead of „Privacy“? That’s what is used in the English-speaking world.
Guter Vorschlag, werde ich mal prüfen.
So, habe geprüft, mich mit meinem englischen Kollegen beraten und das tatsächlich zu „data protection“ geändert. Danke für den Anstoß!
Liebe Frau Heimann-Kiefer,
ich habe Ihren Beitrag mit Begeisterung gelesen. Es gibt so viele Fallstricke beim Übersetzen, über die sich die Leute gar keine Gedanken machen. Über den „englisch angestrichenen“ Text habe ich herzlich gelacht, weil ich das auch schon erlebt habe.
Vor einigen Jahren habe ich in meiner Freizeit englische Texte ins Deutsch übersetzt und mein Ziel war, dass der deutsche Text das gleiche „Gefühl“ in mir auslösen musste wie das Original. Da wurde getüftelt, Synonyme nachgeschlagen, beiseite gelegt, nochmal bearbeitet … So viel Zeit kann sich natürlich kein professioneller Übersetzer nehmen, aber ich hatte unendlich viel Spaß.
Es freut mich, dass mein Artikel Sie begeistert hat.
Dass die Übersetzung das gleiche Gefühl auslösen soll, ist richtig, bzw. ein mögliches Ziel (siehe auch hier: https://kiefheim.de/blog/briefing/). Nach dem richtigen Ausdruck suchen, den Text wenigstens über Nacht reifen lassen, überarbeiten – so arbeiten aber auch wir Profis, die Zeit muss sein, das gehört dazu. Vermutlich geht uns das insgesamt flotter von der Hand als Ihnen, Ausbildung, Praxis und Erfahrung sei Dank. Dennoch braucht ein gutes Ergebnis seine Zeit. Wer beim Übersetzen nur auf Schnelligkeit setzt, macht etwas falsch, sowohl beim Erteilen des Auftrags als auch beim Ausführen.
Ich erinnere an dieser Stelle an das goldene Dreieck der Auftragsvergabe: Im Idealfall soll der Auftrag schnell, gut und günstig ausgeführt werden. In der Praxis bekommt man aber immer nur eine Kombination aus zwei dieser Kriterien, nie alle drei …