Katja Heimann-Kiefer schreibt über Übersetzen, Sprache und Text, Lesen und Vorlesen und den ganzen Rest

Buchtipp: „Menschenkette“

Das Buch "Menschenkette"Am 22. Oktober 1983 haben drei- bis vierhunderttausend Menschen über eine Strecke von 108 Kilometern zwanzig Minuten lang Hand in Hand gestanden, eine Menschenkette als Protest gegen die Stationierung von Atomraketen in Deutschland. Was für eine beeindruckende Aktion! Vor dem Roman von Cäcilie Kowald habe ich das nicht gewusst – und nach dem Lesen ihres Buches bin ich nicht nur um einiges an Wissen reicher, sondern auch um die vielen fein gezeichneten Figuren, die ich im Buch kennenlernen durfte.

Worum geht es?

Das Buch spielt am Tag der Menschenkette: Von überall her reisen die vielen Menschen an die Orte, die ihnen zugewiesen wurden, damit alle gleichmäßig entlang der Strecke verteilt sind. Die Wege der Figuren in „Menschenkette“ führen sie in ein kleines Dorf auf der Schwäbischen Alb. Es sind ganz unterschiedliche Menschen, die hier zusammentreffen: Werner, der seit seinem Einsatz im Zweiten Weltkrieg nur noch einen Arm hat und findet, es hat schon genug Krieg gegeben. Seine Kollegin Marlene, eine junge, stille Lehrerin mit festen Überzeugungen. Wilfried, der schwule Pfarrer, der die Friedensgruppe seiner Gemeinde begleitet. Oliver, ein junger Gymnasiast, begabt, aber unsicher und unter Druck von seinem konservativen Vater. Viele andere noch, und schließlich findet auch Irmi ihren Platz in der Kette. Sie wohnt im Dorf und ist eine der wenigen dort, die sich über das Engagement der angereisten Menschen freut.

Das Buch beginnt früh um halb sieben. In Halbstundenschritten begleiten wir die Figuren des Buchs auf ihrem Weg zum Ziel und lernen sie dabei näher kennen. Wir erfahren, warum sie bei der Menschenkette dabei sind, und außerdem ihre Geschichte, ihre Lebenssituation, was sie bedrückt, was sie umtreibt, was ihnen wichtig ist.

Warum empfehle ich dieses Buch?

Es macht Freude, Werner, Marlene, Franziska, Oliver und die anderen durch diesen besonderen Tag zu begleiten: Wann fährt der Bus los, wo gibt es Kaffee, wo sind die anderen aus meiner Gruppe abgeblieben, kann ich Ulrike in diesem Gewühl überhaupt entdecken, was mache ich eigentlich hier? Doch es geht nicht nur um den Tag, der in allem Trubel unaufhaltsam seinem Höhepunkt entgegenstrebt, nämlich dem Schließen der langen Menschenkette. Wir erleben mit, wie sich einige der Figuren an diesem Tag weiterentwickeln, durch ihre Überlegungen und Eindrücke zu Erkenntnissen und einer anderen Haltung zu den Dingen gelangen, die gerade Thema in ihrem Leben sind.

Mit viel Liebe zeichnet Cäcilie Kowald differenzierte Figuren, einfühlsam beschreibt sie ganz verschiedene Lebenswelten und ‑wirklichkeiten. So unterschiedlich die Figuren sind, so nachvollziehbar sind sie geschildert, man lebt mit. Was sie durchleben und empfinden, ist einerseits zeitlos menschlich, andererseits entsteht aus dem Buch auch ein farbiges und facettenreiches Bild der Bundesrepublik zu Anfang der 1980er Jahre.

Ihrem Text stellt Cäcilie Kowald kurze zeitgenössische Quellentexte an die Seite, etwa Auszüge aus Bundestagsreden oder Zeitschriftenartikeln. Damit schafft sie einen düsteren Kontrast zwischen dem lebendigen Wunsch der Menschen nach Frieden und den daneben zynisch anmutenden politischen Erwägungen der Zeit. Und angesichts des Ukrainekriegs und neuer nuklearer Drohungen scheint manches bedrückend aktuell.

Technische Daten

 

* Bitte kaufen Sie Bücher bei Ihrem Buchladen vor Ort. Oder, wenn es online sein muss, beim Shop der Autorenwelt (der Autoren und Autorinnen mehr zahlt als der reguläre Buchhandel).

 

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