Weihnachtsgeschichte 2024

Könnt ji Platt schnacken?
Ik och nich!

Aber ich bedauere es sehr, dass ich kein Plattdeutsch sprechen kann. Immerhin: Geschriebenes Platt kann ich gut verstehen.

Deshalb hatte ich diesen Herbst viel Freude an dem Buch „Ünner de Sünn“: Es enthält die 26 besten Geschichten, die 2024 beim plattdeutschen Geschichtenwettbewerb des NDR eingereicht wurden. Der stand nämlich unter dem Motto „Ünner de Sünn“ – „Unter der Sonne“.

Jetzt habe ich selbst eine Geschichte für dieses Motto geschrieben – eine Weihnachtsgeschichte. Da ist es wahrscheinlich ganz gut, dass ich Plattdeutsch nicht aktiv beherrsche, denn so haben Sie alle etwas davon. Viel Spaß unter der Sonne!

Dezembersonne

Dezember.

 

Für andere heißt das Kerzen am Adventskranz, Zimtsterne und „Jingle Bells“ – für mich Dunkelheit, grauer Himmel und trübe Stimmung.

 

Mit dem Dezember hadere ich jedes Mal, aber dieses Jahr kommt gerade alles zusammen:

 

Meine allerliebste Kollegin ist Ende November zu einer anderen Firma gewechselt, und ohne sie ist die Arbeit einfach nicht mehr dasselbe. Dann habe ich vorgestern Abend Horst, meinen Hamster, tot unter seinem Laufrad gefunden. Als ich fertig geheult hatte, habe ich seinen kleinen, weichen Körper in eine Serviette gewickelt und in Dunkel und Nieselregen am Flussufer beerdigt. Mach’s gut, Horst! Und zu allem Überfluss habe ich eben auf dem Rückweg vom Supermarkt meinen Ex mit seiner Neuen gesehen. Na ja, so neu ist sie dann auch nicht mehr, und offenbar hatte ich die beiden schon ziemlich lange nicht mehr gesehen: Sie schoben einen Kinderwagen vor sich her und hatten dieses typische debil-glückliche Lächeln junger Eltern im Gesicht. Nicht dass ich den Kerl zurück will, aber irgendwie war der Anblick doch ein Schlag in die Magengrube.

 

Und jetzt stehe ich an diesem Sonntag am Fenster und starre in dieses verdammte, nicht enden wollende Dezembergrau. Es ist gerade mal drei Uhr und praktisch schon dunkel. Kann mal bitte jemand drei Monate vorspulen?

 

Die folgende Woche bringe ich irgendwie hinter mich. Einen Tag nach dem anderen und treu begleitet von meiner ganz persönlichen dunkelgrauen Wolke über dem Kopf.

 

Der 20. Dezember ist mein erster Urlaubstag, endlich. Gerade lümmele ich in Jogginghose und Kuschelsocken mit einer Zeitschrift auf dem Sofa, da zerreißt mein Handy die friedliche Stille. Mama ist dran. Heiligabend werde ich bei ihr verbringen – wahrscheinlich will sie für das Weihnachtsmenü noch wissen, ob ich lieber Spätzle oder Herzoginkartoffeln möchte oder so.

 

„Hallo Mama, was gibt’s?“

 

„Pauli, pass auf: Du holst jetzt sofort deinen Koffer vom Schrank und packst für drei Tage. Steck unbedingt was Warmes ein! Wir sehen uns dann um 14 Uhr am Flughafen, Terminal 1, Eingangshalle, unter der großen Anzeigetafel. Ach ja, und vergiss deinen Personalausweis nicht!“

 

„Äh?!? … Mama?? Was wird das denn? Ich sollte doch an Heiligabend bei dir–“

 

„Frag nicht, geh packen. Um 14 Uhr am Flughafen.“

 

Gespräch beendet.

 

Und ich sitze auf dem Sofa und kriege den Mund nicht zu. Was wird das denn für eine Nummer? Aber ich kenne meine Mutter: Wenn sie so klingt, ist Widerspruch zwecklos. Ich atme tief durch und trotte gehorsam ins Schlafzimmer.

 

Am Ende bin ich tatsächlich eine Viertelstunde zu früh unter der Anzeigetafel am Flughafen, mittlerweile platze ich nämlich vor Neugier. Ich versuche, den um mich herumwuselnden Menschen nicht allzu sehr im Weg zu stehen, und gehe zum x-ten Mal meine Überlegungen aus den letzten Stunden durch. Drei Tage weg. Mit dem Flugzeug. Und wir müssen uns warm anziehen. Die Malediven können es also nicht sein, lohnt sich eh nicht für drei Tage. Vielleicht besuchen wir den Weihnachtsmann und seine Rentiere in Lappland? Eigentlich müsste Mama wissen, dass ich Schnee grässlich finde. Also, was hat sie bloß vor?

 

Pünktlich um 14 Uhr taucht Mama in der Flughafenhalle auf. Sie zieht ein Köfferchen hinter sich her, strahlt und winkt mir schon von Weitem. Kaum ist sie bei mir angelangt, da will ich endlich fragen, was das hier alles soll, und öffne meinen Mund.

 

„Mach den Mund zu und komm mit.“ Sie packt meinen Arm und zieht mich in Richtung der Check-in-Schalter. Ich kann gerade noch meinen Koffer greifen und stolpere hinter ihr her.

 

Wir checken ein in einen Flug nach Dublin. Immerhin geht’s nicht in den Schnee, Schwein gehabt. Und Dublin ist prima: Ich war als Studentin ein halbes Jahr dort und habe mich pudelwohl gefühlt. Was für eine nette Idee von Mama! Ich freue mich darauf, die Stadt wiederzusehen. Ein bisschen durch die Pubs zu ziehen. Und wir könnten ein bisschen shoppen gehen, vielleicht kann ich mich mit einem schönen irischen Wollpulli bei ihr revanchieren. Ich versuche, mich zu bedanken, aber sie bügelt alle meine Wortmeldungen ab.

 

Meine Laune geht wieder in den Sinkflug.

 

Das tut das Flugzeug drei Stunden später auch. Dublin taucht unter uns auf, ich erkenne Howth im Norden, die große Bucht, die Lichter der Stadt und hinten im Dunst die Wicklow Mountains. Gleich schlägt mein Herz schneller.

 

Am Flughafen holt Mama den vorbestellten Mietwagen ab. Ich navigiere uns mit meinem Handy zu einer Adresse in Drumcondra, einem netten Stadtteil auf halbem Wege zwischen Flughafen und Stadtzentrum. Am Ziel wartet ein gemütliches B&B auf uns. Zum Glück war Mama so weise, zwei Einzelzimmer zu buchen, sodass wir uns kein Doppelbett teilen müssen.

 

Unser erster Abend verläuft allerdings nicht so, wie ich mir das vorgestellt habe. Aus dem Pub-Crawl im Stadtzentrum wird nichts, denn Mama will unbedingt in Drumcondra bleiben, damit es nicht so spät wird. Ich protestiere – dafür man fährt doch nicht nach Dublin! –, stoße aber auf Granit. Bitte, dann eben Drumcondra, schließlich gibt es auch hier was zu trinken. Aber noch nicht einmal von ein oder zwei Pints nach dem Essen will Mama etwas wissen: „Gar keine gute Idee. Du brauchst morgen einen klaren Kopf und wir müssen früh raus. Wir gehen heute zeitig ins Bett.“

 

Was wird das denn jetzt schon wieder? Jetzt verbringen wir ein paar Tage in Dublin und haben auch noch Stress? Zu Hause wäre es zwar immer noch dunkler Dezember, aber wenigstens könnte ich ausschlafen und den ganzen Tag auf dem Sofa rumschlunzen, im Warmen und mit vielen Kerzen um mich herum. Doch diesmal frage ich gar nicht erst, was sie vorhat. Auch nicht, als sie ankündigt, dass ich am nächsten Morgen pünktlich um viertel nach sechs im Frühstücksraum erscheinen soll.

 

Ihre Geheimniskrämerei geht mir gewaltig auf den Senkel! Sogar meine dunkelgraue Privatwolke hat es den weiten Weg bis nach Dublin geschafft und schwebt bei jedem Schritt wieder über meinem Kopf.

 

Beim Frühstück reicht es gerade noch für ein „Guten Morgen“, den Rest verbringe ich in ebenso müdem wie missmutigem Schweigen. Das scheint Mama aber nicht zu stören, ihre Augen leuchten, als wäre das hier alles ein riesiger Spaß. Dann geht’s mit dem Auto los. Ich schlafe schon wieder, bevor wir überhaupt aus der Stadt raus sind. Erst als Mama den Motor abstellt, wache ich wieder auf. Etwas orientierungslos blicke ich mich um. Wir stehen auf einem Parkplatz. Aber ich frage natürlich nicht. Auf dem Weg zu dem flachen Gebäudekomplex bin ich froh, dass ich meine lange Unterhose angezogen habe, es ist doch verflixt kühl. Über dem verglasten Eingang steht „Brú na Bóinne“. Mama geht unbeirrt voran, hält mir aber immerhin die Tür auf.

 

In der Eingangshalle warten schon einige Leute. Eine Frau mit Klemmbrett in der Hand kommt uns entgegen und begrüßt uns zum „winter solstice“. Jetzt wird mir alles klar: die Wintersonnenwende! Brú na Bóinne! Wir sind bei Newgrange: ein Ganggrab älter als die Pyramiden, Weltkulturerbe und zur Wintersonnenwende der genialste Ort, an dem man nur sein könnte! Jedes Jahr bewerben sich rund 30.000 Personen darum – und Mama hat ernsthaft bei dieser Lotterie gewonnen? Und mich nimmt sie mit?

 

Bei dieser Erkenntnis wird mir ein bisschen schwindelig. Meine Augen werden feucht, die Umgebung verschwimmt. Die Klemmbrett-Frau streicht unsere Namen auf ihrer Liste ab und reicht uns Umhängebänder mit Schildern, die bestätigen, dass wir zu den „Auserwählten“ gehören. Mit einem Lächeln wünscht sie uns viel Spaß und wendet sich dann dem Paar zu, das gerade durch die Glastür kommt. Ich falle Mama um den Hals und bringe vor lauter Kloß im Hals kein Wort raus. Aber das ist auch nicht nötig. Mama drückt mich fest und noch ein bisschen fester und flüstert mir ins Ohr: „Ich hab mir doch gedacht, dass das was für dich ist.“ Ich nicke stumm an ihrer Schulter und wische die letzten Tränen in ihren bunten Wollschal.

 

Kurz darauf wird es ernst: Wir steigen in einen Minibus, der uns vom Besucherzentrum durch die Wiesen zum Hügel von Newgrange fährt. Schon beim Näherkommen ist der Anblick des großen Hügels mit der grasbewachsenen Kuppel und der Außenmauer aus geradezu unwirklich weißen Steinen majestätisch. Das letzte Stück geht es zu Fuß, dann neben dem riesigen Stein mit der bekannten Dreifach-Spirale eine kleine Holztreppe hoch.

 

Bevor ich das Innere betrete, schaue ich hoch zu der rechteckigen Öffnung oberhalb des Eingangs: Auf sie wird es gleich ankommen. Dann folge ich den anderen ins Dunkel. Wir stapfen hintereinander durch den sanft ansteigenden Gang. Man hört unsere Schritte und das Rascheln, mit dem unsere Jacken an den Steinplatten zu beiden Seiten entlangstreifen. Die höhergelegene Kammer am Ende des Ganges kommt in Sicht. Ich drehe mich um und werfe einen Blick zurück: Ja, jetzt ist die Öffnung über dem Eingang schon auf meiner Augenhöhe.

 

In der Kammer ist es trocken und scheint auch nicht mehr so kühl. Wir reihen uns an den Wänden entlang auf.

 

Wir warten. Kaum jemand sagt etwas.

 

Und dann ist es so weit: Die Sonne steigt an diesem kürzesten, dunkelsten Tag des Jahres auf der anderen Seite des Flusstals über den Hügelsaum und der erste Sonnenstrahl fällt von draußen durch die kleine Öffnung oberhalb des Eingangs. In gerader Linie durchquert er den Gang und trifft auf den Kammerboden. Es ist sofort ein bisschen heller. Der Strahl tastet sich voran, wird breiter, bringt immer mehr Licht mit. Draußen steigt die Sonne in die Höhe und immer dicker und kraftvoller wird das Strahlenbündel, das die Kammer erreicht. Schließlich erstrahlt die ganze Kammer hell im goldenen Licht der Dezembersonne.

 

Mir wird ganz warm, und das liegt nicht an meinen langen Unterhosen. Ich spüre die Gewissheit und die Dankbarkeit, aus der die Menschen vor über 5000 Jahren dieses Wunder erbaut haben:

 

Die Sonne kommt wieder.

Das Licht verlässt uns nicht.

© Katja Heimann-Kiefer
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Foto einer Landschaft im Dezember: Am Horizont die schwarzen Silhouetten von kahlen Bäumen, weiter hinten graue Hügelketten. Der Himmel darüber ist bewölkt, doch die Sonne lugt über einen Wolkenstreifen und schickt orangegoldene Strahlen in dhe Höhe, die einen tollen Kontrast zu den sehr dunklen Wolken darüber bilden.

 

Foto einer alten Eintrittskarte für Newgrange.Ich habe Newgrange vor über 30 Jahren als Auslandsstudentin besucht. Es war Anfang Januar, die Wintersonnenwende lag gerade hinter uns. Deshalb wurde der Lichtstrahl mit einer Lampe nachgestellt. Doch schon das war ein erhebendes Erlebnis und hat bei mir einen tiefen Eindruck hinterlassen, wie Sie sicherlich gemerkt haben.

Jetzt freue ich mich darauf, dass die Tage wieder länger werden, dann beginnt bald ein neues Jahr und ich bin gespannt, was es bringen wird – mir, meinen Lieben, uns allen. Hoffentlich genug Licht.

Kommen Sie gut durch die Feiertage und ins neue Jahr – wir lesen uns!

Und falls Sie gleich noch die Weihnachtsgeschichten aus den letzten Jahren lesen möchten:

 

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