Katja Heimann-Kiefer schreibt über Übersetzen, Sprache und Text, Lesen und Vorlesen und den ganzen Rest

Buchtipp: „The Street“

Das Buch „The Street“Der Roman „The Street“ der Afroamerikanerin Ann Petry stammt schon aus dem Jahr 1946, aber das macht nichts. Das Werk war damals ein Beststeller, geriet in Vergessenheit und wurde 2018 „wiederentdeckt“ – völlig zu Recht. Wie ich fürchte, ist es noch heute aktueller, als es sein sollte.

Ich habe das Buch im englischen Original gelesen, was natürlich immer am besten ist, wenn die Englischkenntnisse dazu ausreichen. Es gibt auch eine deutsche Fassung (siehe unten), die ich allerdings nicht kenne und daher nicht beurteilen kann.

 

Worum geht es?

Wir lernen Lutie Johnson kennen, als sie eine neue Wohnung für sich und ihren Sohn Bub besichtigt. Ihr Bauchgefühl meldet von Anfang an, dass die Wohnung, das Haus, die Straße nicht gut ist. Sie spürt, dass die Straße die Kraft haben kann, die Menschen dort mit einem Sog von Versuchungen im Elend festzuhalten. Außerdem ist der Hausmeister Jones, der ihr die Wohnung zeigt, eine unangenehme Gestalt, von ihm geht etwas Abnormes, Bedrohliches aus. Aber Lutie hat sehr gute Gründe für einen Umzug und so nimmt sie die Wohnung.

Lutie Johnson ist eine bewundernswerte Frau: gut organisiert, fleißig, eine aufmerksame und liebevolle alleinerziehende Mutter, die sich im Allgemeinen keinen Illusionen mehr hingibt. Sie hält ihr Geld zusammen, hat sich mit Durchhaltevermögen in der Abendschule weitergebildet und plant sorgsam ihren kleinen beruflichen Aufstieg, der ihr und Bub den Absprung in ein besseres Leben ermöglichen soll. Doch dann kommt ein Abend, an dem das Bedürfnis nach ein bisschen Entspannung, Licht und Freude so groß ist, dass sie sich ausnahmsweise ein Bier in einer nahegelegenen Kneipe gestattet. Hier wird der Clubbesitzer Boots Smith auf sie aufmerksam. Er bietet ihr  – offensichtlich mit Hintergedanken – ein Engagement als Sängerin in seinem Nachtclub an. Und die eigentlich so vorsichtige, vernünftige, patente Lutie sagt, sie könne es sich ja mal ansehen …

Warum empfehle ich dieses Buch?

„The Street“ ist ein packendes, bis zum Ende spannendes und überaus bedrückendes Buch. Es schildert mit Überzeugungskraft, wie schwer es ist, wenn man weiblich, arm, schwarz und alleinerziehend ist. Nicht als abstrakte Faktoren, sondern mit lauter kleinen, hässlichen Details, aus dem Alltag gegriffen. Wenn irgendjemand es schaffen kann, die Niederungen der 116th Street zu überwinden, dann ist es Lutie Johnson, die zudem fest entschlossen ist, ihrem Sohn den Start in ein besseres Leben zu ermöglichen. Doch es gibt so einige Leute, die sich in Luties Leben einmischen: neben Boots Smith auch der Hausmeister Jones, der ihr nachstellt, oder die undurchsichtige Mrs Hedges aus dem Hochparterre. So begleitet uns beim Lesen das Gefühl drohenden Verhängnisses, was die Lektüre so packend macht.

Eine schöne Besonderheit: Jede der anderen Figuren kommt zu ihrem Recht. Die Autorin widmet ihnen eigene Abschnitte, in denen wir die Welt aus ihrer Perspektive erleben und erfahren, wie sie zu dem wurden, was sie sind. Hinter allen steht eine Geschichte, und wenn man die Personen besser kennt, sind sie gar nicht mehr so furchtbar, sondern Menschen.

Fazit: sehr lesenswert!

Technische Daten

  • „The Street“ von Ann Petry
  • Meine englische Ausgabe bei Virago*: Taschenbuch, 404 Seiten, 9,99 £/9,97 €, ISBN 9780349012926
  • Deutsche Ausgabe bei Nagel & Kimche*: Hardcover, 384 Seiten, 24,00 €, ISBN 978-3-312-01160-5 (auch als E-Book erhältlich)

 

* Bitte kaufen Sie Bücher bei Ihrem Buchladen vor Ort. Oder, wenn es online sein muss, beim Shop der Autorenwelt (der Autoren und Autorinnen mehr zahlt als der reguläre Buchhandel).

 

2 Kommentare

    1. Zu allen Aussagen: Ja!

      Ich bin zwar weiblich, aber nicht schwarz, nicht arm und nicht alleinerziehend. Ich fand das Buch auch deshalb sehr interessant: Es erzählt, was weiße Arbeitgeber von schwarzen Frauen denken, oder dass Menschen so arm sind, dass sie sich überlegen, wie lange das Licht brennen darf, damit sie die Stromrechnung noch bezahlen können …

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